Zitat von
lichtfinger
Der Kader ist schlicht unausgegoren. Auch zu den erfolgreichen Zeiten der letzten 10 Jahre gab es hier und da Lücken, die aber durch herausragende Qualität an anderer Stelle aufgefangen werden konnten. Das funktioniert nun aktuell nicht mehr, auch wenn sich der Bundestrainer windet und versucht neue, passende Wege zu finden.
Angriff:
Es gibt derzeit keinen Mittelstürmer internationalen Formats in Deutschland. Seit Miro Klose herrscht auf diser Position gähnende Leere. Timo Werner ist relativ abschlussstark, ist aber keiner, der Bälle im letzten Drittel halten und verteilen kann. Werner braucht Platz, Anlauf und Pässe in die Tiefe, um seine enorme Geschwindigkeit auszuspielen.
Löw hat diese Problematik natürlich erkannt. Versuche mit einem reaktivierten Gomez und mit Mark Uth sind kläglich gescheitert. Auch die "Falsche 9" wurde zigmal ausprobiert, mit Götze, Reus, Müller, Werner. Funktioniert hat es nie.
Die passendste Symbiose aus dem vorhandenen Spielerpool scheint sich zu in schnellem, blitzartigem Konterfußball zu ergeben. 2010 in extrem, sozusagen. Sané, Gnabry, Reus, Werner sind schnell, haben ordentlich Zug zum Tor, sind in ihren Läufen kaum zu stoppen und treffen recht zuverlässig zwischen die Stangen.
Es scheint, als wolle Löw diese Stärken ausspielen und auf diese vier Spieler setzen. Die Sané-Verletzung trifft dabei natürlich ins Mark.
Mittelfeld:
Wenn aus nachvollziehbaren Gründen auf obige Überfall-Taktik in der Offesive gesetzt wird, dann braucht es einen oder besser mehrere hervorragende Passgeber, die die Angreifer mit Bällen in die Tiefe steil schicken können. Einer der besten, die es dafür je gegeben hat, spielt leider nicht mehr für die Nationalmannschaft, Mesut Özil. Grundsätzlich steht ihm Toni Kroos in dieser Disziplin nur in wenigem nach. Etwas weiter hinten verortet und mit weniger direktem Zug nach vorne, ist er pass- und spielstark genug, um diese Aufgabe zu bewältigen. So richtig scheint das jedoch noch nicht zu passen. Zum einen ist er der Einzige, der das Spiel aus dem zentralen Mittelfeld mit schnellen, präzisen Pässen nach vorne verlagern kann, was natürlich auch die Gegner wissen. Kroos zustellen und damit das deutsche Spiel lahmlegen scheint die Devise. Zumal kein Özil, kein Schweinsteiger, kein Khedira mehr zur Verfügung steht, der für ihn übernehmen könnte.
Zum anderen muss an Kroos' Seite zwingend ein strikt defensiv denkender 6er auflaufen. Toni war noch nie der Abräumer vor dem Herren, mit zunehmendem Alter lässt er diesbezüglich auch noch nach. Löw reagiert auf das fatale Loch im defensiven Mittelfeld, das bei der WM 2018 dem Gegner Tür und Tor öffnete, indem er einen defensivstarken 6er installiert. Das Problem: auch auf dieser Position gibt es deutschlandweit keinen Klasse-Spieler. Rudy ist nicht die Antwort, Weigl erst recht nicht. Der beste, der diese Aufgabe übernehmen kann, heißt: Joshua Kimmich. Er ist zwingend nötig für die Stabilität und Balance im zentralen Mittelfeld, auch wenn er dabei als Rechtsverteidiger ausscheidet, wo er sicherlich noch besser aufgehoben wäre. Can, Goretzka, Gündogan bringen entweder nicht den nötigen defensiven Biss mit oder lassen die höchste internationale Klasse vermissen.
Die Mittelfeldalternativen Havertz, Brandt oder Draxler sind sicherlich sehr gute, allerdings für Positionen, die bereits besetzt sind oder die in der derzeitigen Ausrichtung nicht vorkommen. Und wenn bei Rückstand wie gestern Gündogan, Havertz und Brandt eingewechselt werden, verschiebt sich das gesamte Gefüge zu einem seltsam unfunktionalen Mix aus Kurzpasspiel, Defensivproblemen und Warten auf Tiefenbälle. Gündogan sucht dann verzweifelt nach Passoptionen, die er meist nur im 3m entfernten Kroos findet. Oder eben gar nicht. Brandt, Gnabry und Havertz wiederum wissen nicht, wo sie sich wie anbieten sollen und wer das Zentrum besetzen soll. So entsteht das gestern in den letzten 20 Minuten vorgetragene ziellose Klein-Klein in der Mitte des Platzes.
Es wird eine schwere Aufgabe für Löw Wege zu finden, diese Spieler zu einem funktionierenden Kollektiv zu formen.
Verteidigung:
Um dem angesprochenen Problem zu begegnen, dass zu viel Last und Ausrechenbarkeit auf dem ZM lastet, hat Löw eine 5er-Kette installiert mit weit außen stehenden Außenverteidigern, die im Angriff zu Mittelfeldspielern werden. Durch diese soll der Vortrag und das schnelle Umschalten in den Raketen-Angriff auch über Außen ermöglich werden. Auf links scheint man sich auf Schulz festgelegt zu haben. Der für diese Position sicherlich am besten geeignet ist. Auch wenn man bei ihm nun darauf hoffen muss, dass er sich in Dortmund zu einem Spitzenmann auf dieser Position entwickeln kann. Mit 26 ist das nicht ausgeschlossen, man braucht aber großen Optimismus um daran auch zu glauben. Alternativen sind dann schon wieder rar gesät. Auch was die rechte Seite anbelangt. Es spricht Bände, dass Jonas Hector nun wieder nomminiert wurde, dass Plattenhardt, Halstenberg und Klostermann dort schon gespielt haben, und dass auf Entwicklungssprünge bei Kehrer und Henrichs gehofft wird. Für eine ambitionierte deutsche Nationalmannschaft ist dies schlicht ungenügend. Ich warte nur auf den Tag bis Maxi Eggestein als RAV im Nationalteam aufläuft...
Dabei sind die beiden Außenverteidiger enorm wichtig für das Team. Denn von den Innenverteidigern kann leider kein nennenswerter Beitrag für den Spielaufbau erwartet werden. Vorbei sind die Zeiten als Hummels mit scharfen Flachpässen in die Zentrale das gegnerische Pressing aushebeln konnte und als Boateng mit pirlo-esquen langen Bällen das Spiel verlagern und strkturieren konnte. Diese Elemente fehlen dem deutschen Spiel enorm. Süle, Tah, Rüdiger sind solide Verteidiger mit offensichtlichen Stärken und Schwächen. Insbesondere über mangelnde körperliche Robustheit kann man sich nicht beklagen. Stellungsspiel, Passspiel, selbst das Kopfballspiel laden hingegen zum ungläubigen Kopfschütteln ein. Ach und Matze Ginter. Ja der versucht sich zumindest tragisch-komisch nach vorne einzuschalten. Unterm Strich fehlt auch in der Innenverteidigung die nötige Klasse. Die Niederländer bspw. sind uns auf dieser Position haushoch überlegen.
Tor:
Manuel Neuer gilt nach wie vor als einer der besten Torhüter mit dem Ball am Fuß. Er kann durchaus ein feines Pässchen spielen, ist selbst anspielbar und hat die nötige Ruhe. Es leuchtet ein, dass Löw nach wie vor auf ihn baut, um die fehlende spielerische Präsenz der Innenverteidiger auf den Torwart auszulagern. Der "Rausbolz-Verteidigung" ist so zumindest ein Towart zur Seite gestellt, dem sie Ball und Verantwortung abtreten können und der dann die Außenstürmer oder den ZM suchen darf.
Ich nehme an, dass dies einer der sportlichen Gründe ist, warum Neuer noch immer den Vorzug vor Ter Stegen erhält. Nach seiner Katastrophensaison 18/19 scheint er sich auch wieder etwas gefangen zu haben. Dennoch wird der Neuer von 2014 nach wie vor schmerzlich vermisst.
Fazit:
Löw versucht meines Erachtens auf die Stärken der deutschen Spieler zu bauen und ein System zu entwickeln, das diese hervorhebt. Gleichzeitig versucht er, die eklatanten personellen Lücken so zu kaschieren. Die Abkehr vom Ballbesitz- und Kurzpassfußball ist von diesem Standpunkt aus nachvollziehbar und der Fokus auf Konterspiel und 6 defensiv ausgerichtete Feldspieler folgerichtig.
Allerdings müsste einem solchen System eine herausragende Defensive vorausgehen. Man verzichtet auf Pressing und überlässt dem Gegner den Ball. Dies muss man absorbieren können. Dem deutschen Team fehlt hierfür aber die Qualität, vor allem wenn schnell kombiniert wird. Auch fallen diesem Ansatz weitere Offensivspieler zum Opfer. Löw verzichtet so bewusst auf technisch versierte und passstarke Spieler wie Brandt, Gündogan und Draxler, bietet auch keinen Platz für wuchtiges Nach-vorne-Stoßen à la Havertz und Goretzka.
Wie man aber aus einem Team ohne Mittelstürmer, defensive Mittelfeldspieler, Außenverteidigern und Innenverteidigern gehobener Klasse, dafür aber mit zig zentralen Mittelfeldspieler, Außenstürmern und Torhütern ein erfolgreiches und funktionierendes Gefüge basteln soll, weiß ich nicht.
Ich befürchte nur, Löw auch nicht.