Juventus Bremen
Lockdown 2020/21. Der Fußball spielt in leeren Stadien, die Kneipen sind dicht. Wer sich kein Sky zuhause leisten kann oder will und die illegalen Streams scheut, dem bleiben am Ende nur Sportschau und Sportstudio, um das am Nachmittag Geschehene visuell nachzuvollziehen. Doch wer will schon so lange warten bis er oder sie seine Meinung über einen Spielausgang kundtun darf. Im Netz der unbegrenzten Möglichkeiten kann man doch jederzeit seine mehr oder minder qualifizierte Meinung über das sportliche Geschehen und den Zustand der eigenen Mannschaft abgeben. Denn eigentlich ist es ja ein easy Job, so eine Bundesligamannschaft zu führen, hätte man nur fähige Manager, Sportdirektoren, Trainer und Spieler am Start. Entsprechend kommentiert man dann auch und man liest – unabhängig von Verein und Ligazugehörigkeit in Krisensituationen immer wieder die gleichen Parolen. Besonders gern mag ich: „Wenn ich Montag so arbeiten würde wie diese satten lustlosen Millionäre, dann wäre ich meinen Job ganz schnell los.“ Mit dem Hang zur Selbstüberschätzung ist auch dieser hier ganz gängig: „Lieber FC Verein, ich bin bereit meinen Herzensverein zu trainieren und nehme nur einen Bruchteil des Geldes meines Vorgängers. Schmeißt diesen unfähigen Trainer raus und nehmt mich stattdessen. Was der kann, kann ich schon lange.“
Ein dritter und auch bei Werder in der letzten Saison häufig gebrauchter Wutschrei fordert, die ganzen überbezahlten Profis sofort zu suspendieren und stattdessen motivierte junge Leute aus der zweiten Mannschaft am nächsten Sonnabend aufzustellen. Die würden sich wenigstens noch den Arsch aufreißen und schlimmer als das just Erlebte, könne es durch die ganzen Jungspunde auch nicht werden. Nun ist es ziemlich verrückt, aber Werder machte aus der Not der Pandemie eine Tugend und schickte tatsächlich viele der Altgedienten Spieler weg (Bartels, Bargfrede), setzte sie auf die Bank (Moisander) und verkaufte sein „Tafelsilber“ (Klaassen, fast auch Rashica). Stattdessen ließ man massig junge Spieler ran und nicht nur ein, zwei für ein paar Minuten. Allein in der gerade beendeten Hinrunde gaben mit Felix Agu (21), Ilia Gruev (20), Jean-Manuel Mbom (20), Romano Schmid (20), Eren Dinkci (19) und Tahith Chong (21) sechs junge Spieler ihr Ligadebüt. Vor einem Jahr schon war es der damals erst 17-jährige Nick Woltemade. Und dann dürfen wir nicht vergessen, dass selbst Stammkräfte wie Marco Friedl (22) und Josh Sargent (20) ebenfalls noch zu Werders junger Garde gezählt werden dürfen. Sukzessive, zuletzt auch bedingt durch die Verletzung von Ludwig Augustinsson, entwickelten sich Mbom, Schmid und Agu zu Stammspielern oder zumindest zu echten Alternativen für die Startelf. Und dieses „Juventus Bremen“ ist in dieser Saison alles andere als Kanonenfutter.
Schön oder? Eigentlich schon, fast ein Traum für alle Facebook-Kommentarfritzen und -fridas. Aber nein, stattdessen muss ich mich ärgern. Denn insbesondere nach den Siegen in Mainz und vor einer Woche gegen Augsburg ploppten aller Orten kritische bis hämische Kommentare über die mangelnde Attraktivität des Bremer Fußballs auf. Sagt mal, geht’s noch??? Sollen die Jungs – und gerade in dieser Tabellenkonstellation – jetzt auch noch anfangen wöchentlich zu zaubern? Gegen Augsburg stand in der ersten Halbzeit defensive Sicherheit auf dem Programm. Über diese Sicherheit wurde dann in der zweiten Halbzeit die Option entwickelt, selbst aktiver und selbstbewusster zu werden. Ähnlich war es gegen Mainz, wobei da noch einen Deut schwächer. In Gladbach erlebten wir eine extrem junge und mutige Bremer Startelf, die fast 700 Spiele weniger an Erfahrung aufwies als die der Borussia. Das Bremer Spiel war attraktiv und auf Augenhöhe, die Niederlage sehr unglücklich.
Gegen die Hertha gestern lief dann mal alles zusammen für die Grün-Weißen. Früher Elfmeter, auf der Gegenseite hielt Pavlenka den Elfer. In der zweiten Hälfte, mitten in die Druckphase der Berliner hinein dann der Traumpass des zuletzt viel gescholtenen Maxi Eggestein auf den ebenfalls viel gescholtenen Leo Bittencourt, der den Ball brillant annahm und versenkte: 3:1, die Vorentscheidung! Welche Wucht und individuelle Klasse Spieler wie Pekarik, Darida, Matheus Cunha und Cordoba mitbringen, das mussten vor allem Agu und Mbom auf dem linken Flügel erfahren, den die Hertha ab Mitte der ersten Halbzeit ganz gezielt bespielte. Von hier aus segelten zahlreiche Flanken in den Sechzehner, die Pavlenka aber allesamt souverän entschärfte. Bei Herthas Elfmeter, hatte sich Mbom einfach nicht clever angestellt gegen den starken Matheus Cunha, der beim Strafstoß dann aber dankenswerter Weise seine schwächste Szene im Spiel hatte.
Für mich persönlich hatte gerade dieses abgefeierte Spiel gestern ziemlich viele Momente, in denen unsere Jungen, gerade in Sachen Defensivarbeit einiges an Lehrgeld bezahlen mussten, während Pavlenka, Toprak und später auch Moisander im Zentrum ordentlich was auszubügeln hatten. Aber das ist gut, denn so lernt man. Das sind wichtige Erfahrungen. Das ist kein Grund zur Kritik, zumindest nicht zur unsachlichen. Werder hat nach 19 Spielen 21 Punkte auf dem Konto. Das hatten sie in der Vorsaison erst am 27. Spieltag geschafft. Und das, obwohl auch in diesem Jahr Leistungsträger wie Füllkrug, Augustinsson, Rashica und Toprak immer wieder längere Zeit ausfielen. Das Spiel gegen eine psychologisch angeknackste Hertha war für Werder, auch so wie es letztlich lief, ein Glücksfall. Aber es wird auch wieder Rückschläge geben, vielleicht ja schon nächste Woche gegen Schalke, wenn die nach dem letzten Strohhalm greifen und Huntelaar den Pizarro von Gelsenkirchen machen will. Vielleicht gibt es auch wieder unattraktive Spiele und „Gähn-Fußball“ mit einem 0:0 gegen Köln. Gehört alles dazu, wenn sich ein junges Team entwickelt. Und das Schönste ist, auch wenn es blöd klingt, ein Tahith Chong, der im Sommer vielleicht zurück zu United muss, spielt in diesem Team gar keine Rolle. Die Jungs stehen alle bei uns unter Vertrag.
Nun ich sag euch was und da lehne ich mich mal ganz weit aus dem Fenster. Werder hat vom Potenzial her vielleicht eine der interessantesten jungen Mannschaften in den europäischen Spitzenligen. Und wir haben einen jungen Trainer der sich traut, junge Spieler einerseits behutsam aufzubauen, sie aber andererseits auch tatsächlich in den Wettkampf zu werfen. Jean-Manuel Mbom wurde auf Anhieb vom Drittliga-Spieler zum Bundesligastammspieler. Und das gleiche erlebte Christian Groß mit 30 Jahren in der Vorsaison. Da sage mir noch einer, Kohfeldt könne keine Spieler entwickeln, wie zuletzt ebenfalls häufig behauptet wurde. Wenn das Projekt Klassenerhalt gelingt, dann können wir uns in der nächsten Saison auf ein richtig schönes Werder-Jahr freuen, wenn unsere Azubis erstmal richtig durchstarten. Und was die Kommentarspalten angeht: Ihr habt zuhause doch bestimmt auch ein paar weiße Wände. Schreibt die doch voll, dann wird es schneller Frühling.
Quelle:
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